WDR-Programmheft: "Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede
unglückliche Familie ist auf ihre besondere Art unglücklich", lautet der
erste Satz in Tolstois berühmtem Roman. Zu Beginn der Juni 1870
spielenden, spannungsgeladenen Handlung führt die der russischen
Oberschicht angehörende Familie Karenin ein geordnetes, zufriedenes
Leben. Die Katastrophe bahnt sich an, als die schöne, warmherzige Anna
Karenina, die ihren zwanzig Jahre älteren Mann achtet und ihren kleinen
Sohn anbetet, dem männlich kraftvollen Offizier Graf Vronskij
leidenschaftlich verfällt. Zwischen der ersten, schicksalhaften
Begegnung auf einem Moskauer Bahnhof und Annas Selbstmord unter den
Rädern eines Eisenbahnwagens liegen die Stationen ihres durch tragische
Verstrickung heraufbeschworenen Leidensweges. Das Verhängnis nimmt
seinen Lauf, als Anna, die sich in ihrem unbezähmbaren Drang nach Glück
für den Geliebten entschieden und Mann und Kind verlassen hat, erkennt,
daß die Gesellschaft in ihrer Liebe nur den Fehltritt sieht und sie das
Los einer Ausgestoßenen auf sich nehmen muß. Sie klammert sich nun an
ihre Liebe, der sie alles geopfert hat und die sie um jeden Preis
bewahren will. Dieser Kampf um die letztlich absolute Inbesitznahme des
Geliebten führt zwischen ihnen zur Entfremdung, die nach einer Phase
erbitterter Eifersuchts- und Haßausbrüche in Hoffnungslosigkeit mündet.
Anna findet aus dem Gefängnis ihrer seelischen Qualen nicht mehr heraus. Die
Großstädte Moskau und Petersburg mit ihren Adelspalästen, Bällen und
Salons, ihren Offiziersclubs und Theatern bilden ebenso die Schauplätze
wie die Güter der ländlichen Aristokratie, Mit pessimistischem
Scharfblick hat Tolstoi das Brüchige der kulturellen und moralischen
Ordnung einer ganzen Gesellschaft festgehalten, Ständig wechselt der
Autor den Blickpunkt, von dem aus er seine Gestalten sieht: aus der
Distanz, einkesselnd, hautnah. Wen er eben noch bei komischen
Manifestationen ertappt, zeigt er darauf von seiner erhabenen Seite, um
ihn dann in einer Gruppenaufnahme kläglich verschwinden zu lassen. Eine
der großen Liebesgeschichten der Weltliteratur und zugleich ein episches
Kolossalgemälde des zaristischen Rußlands von nie mehr erreichter
Eindringlichkeit. Die Rache ist mein, ich will vergelten." Diesen
Bibelspruch hat Tolstoi seinem Roman, einem der größten
Liebesgeschichten der Weltliteratur, vorangestellt. Aber das heißt
nicht, die Gesellschaft habe seine Heldin zurecht wegen ihres Ehebruchs
bestraft. Für den Autor, den moralische Fragen tief bewegten, hat sich
Anna Karenina in einem höheren Sinn versündigt. Das moralische Problem
ist nicht ihre Liebe zu einem anderen Mann, sondern daß diese Liebe rein
sexueller Natur ist. Tolstoi war der Ansicht, daß eine Liebesbeziehung
nur wahr ist, wenn sie außer auf sinnlichen Freuden auch auf Achtung,
Verantwortlichkeit, Zärtlichkeit und Aufrichtigkeit gegründet ist.
Dieses Ideal wird von zwei anderen Hauptfiguren, Levin und Kitty,
verkörpert. Im Gegensatz zu Annas und Vronskijs Verbindung basiert ihre
Ehe auf christlich-spirituellen Vorstellungen. Ihr Leben ist zwar
prosaischer und ruhiger, aber voll Harmonie. Wieder anders geht es in
der Familie von Annas Bruder Stiva zu. Die Geschichte des Ehepaars
Oblonskij spiegelt die Problematik der beiden Haupterzählstränge auf der
alltäglichen Ebene wider: Annas Schwägerin Dolly vergibt ihrem
notorisch untreuen Mann um ihrer fünf Kinder willen und weil sie ihn
liebt. Für Tolstoi war ein Ehepaar mit Kindern durch ein göttliches
Gesetz für immer aneinander gebunden. |