Alceste ist ein Mann mit hohen moralischen Ansprüchen: Er hasst jede
Art gesellschaftlicher Heuchelei - und damit den Großteil seiner
täglichen Umgebung. Aber er liebt die mit dem Spiel galanter
Halbwahrheiten bestens vertraute Célimène, und während diese ihre
Lügentriumphe genießt, frönt er seinem Leiden am Scheitern der Wahrheit.
Ein Brief verrät, dass Célimène gleich vier Verehrer hat, Alceste
eingeschlossen, doch seine Forderung, mit ihm in die Einsamkeit zu gehen
und ihr Leben radikal zu ändern, mag sie nicht erfüllen. Für Alceste,
den Menschenverächter und Wahrheitsfanatiker, bleibt nur die
Möglichkeit, außerhalb der Gesellschaft zu leben. Ihm fehlt die
praktische Vernunft, die Einsicht in die Notwendigkeit menschlicher
Schwächen und jede Bereitschaft zum Kompromiss - das macht ihn
lächerlich und, wie Goethe meint, auch ein wenig tragisch: "Hier stellt
sich der reine Mensch dar, welcher bei gewonnener großer Bildung doch
natürlich geblieben ist und wie mit sich, so auch mit andern, nur gar zu
gern wahr und gründlich sein möchte; wir sehn ihn aber im Konflikt mit
der sozialen Welt, in der man ohne Verstellung und Flachheit nicht
umgehen kann." (NWDR-Programmheft) |