Bei einer Abendunterhaltung kommt die Rede auch auf das Thema
"Nächstenliebe" und "Opferbereitschaft". Ein anwesender Arzt erinnert
sich an ein diesbezügliches Erlebnis, bei dem er Zeuge eines
"außerordentlichen Beispiels von Mutterliebe" wurde. Psychoanalyse,
literarisch erfunden und formuliert: Nach dem Mordanschlag ihres Sohnes
mit einer Hacke auf sie, motiviert Frau Eberlein die Tat damit, daß sie
selbst das Neugeborene in der ersten Lebensnacht mit Kissen ersticken
wollte. Die verrückte Frau Nickel, wie die Nachbarn sie nennen, geht Tag für
Tag auf den Bahnhof, um ihren in Rußland vermißten Sohn zu erwarten, in
den sie von Jugend auf die größten Hoffnungen gesetzt hat. Ein
heruntergekommener Tagedieb, der auf dem Bahnhof herumlungert, vermag
ihr Vertrauen zu erringen und wird von der Mutter in wahnwitzigem
Entschluß mit dem vermißten Sohn identifiziert. Er nutzt brutal die
verblendete Liebe der alten Frau aus und verläßt sie, nachdem sie ihre
letzte Habe verkauft hat. Als die verstörte Mutter nun wirklich die
Nachricht von der Heimkehr ihres Sohnes bekommt, verleugnet sie ihn. Das 1914 erschienene und 1916 in Prag uraufgeführte Drama des
deutschen Expressionisten Hasenclever, der für die deutsche Jugend jener
Zeit der Prototyp des politischen Dichters war, wurde von Kritik und
Publikum als Ausdruck einer revoltierenden jungen Generation begeistert
aufgenommen. Der Sohn, eben bei der Matura durchgefallen, lebt seinen
unstillbaren Drang nach Freiheit und Menschlichkeit in
ekstatischen Emotionen aus, rebelliert gegen den Vater, der ihm die
Freiheit verweigert, weil er unfähig ist, die durch Tradition und
Konvention sanktionierte Autorität preiszugeben. Der Konflikt eskaliert
bis zum versuchten Vatermord, zu dem es jedoch nicht kommt, da der Vater
vorher tot zusammenbricht. |